DON (de) Lillo

Ich weiß, ich nerve. Meine Begeisterung für das Spiel des FC Barcelona ist grenzenlos. Ich kann mich daran nicht sattsehen. Ich gebe mich dem Zauber hin, genießend, frage mich in wachen Momenten dennoch manchmal, was genau das Spiel ausmacht, wie es funktioniert, was der innerste Kern ist, was es von dem Spiel anderer Mannschaften unterscheidet, es einmalig macht. Pep Guardiola wurde einmal gefragt, was der Schlüssel, das Geheimnis seines Spiels sei. Er antwortete sinngemäß: Unser Spiel ist nicht zu entschlüsseln. Das ist das einzige Geheimnis.

Vor etwa drei Wochen (SZ vom 28.03.2012) erschien in der Printausgabe der Sueddeutschen Zeitung ein Interview (liegt leider nicht online vor) mit „Guardiolas Lehrmeister“ Juan Manuel Lillo. Ich musste lange nachdenken, bevor mir zu dem Namen etwas einfiel. Immerhin, Lillo ist noch immer der jüngste Trainer, der je ein Team der Primera Division trainieren durfte. Mit 29 Jahren übernahm er 1995 die Geschicke bei Salamanca, bevor er ein gutes Jahr später den Grundstein für das heutige Spiel des FC Barcelona legen sollte. Gemeinsam (und ausdrücklich von Guardiola & Cruyff erwünscht), entwickelten die zwei Jungspunde das vielzitierte „Modell Barcelona“.

Im besagten Interview gewährt Lillo dem geneigten Leser einen kleinen Einblick in die Arbeitsweise der beiden. Auch hier wird das große Geheimnis nicht gelüftet. Aber man bekommt eine Ahnung. Mal eher vage verklausuliert, mal ganz konkret. Wenn man sich vor Augen hält, dass diese Arbeit bereits Mitte/Ende der neunziger Jahre stattgefunden hat, möchte man den Hut ziehen. Zu dieser  Zeit beackerten in Deutschland noch Fußballarbeiter wie Jens Jeremies oder Jürgen Kohler die Rasen der heimischen Liga. An der Seitenlinie standen Größen wie Erich Ribbeck und Jürgen Röber.

Wie aber fängt man an? Bevor etwas Neues entstehen kann, muss das Alte dekonstruiert werden und so kommt Lillo zum Schluss, dass

„…wir uns im Fußball von Begriffen wie Angriff und Verteidigung lösen [müssen]. Angriff und Verteidigung existieren nicht!
Das sind Hilfsbegriffe, die wir uns aus kollektiven Sportarten entlehnt haben, die mit der Hand gespielt werden. Aber im Fußball kannst Du den Ball eben nicht festhalten.“

So weit so wahr. Eine einfache Wahrheit gelassen ausgesprochen. Er gibt zu, dass es nicht leicht ist, zu erklären, wie alles begann („15 Bücher reichen dafür nicht aus“). Deshalb bleibt er zunächst vage, nähert sich einer konkreten Aussage aber an.

„Wenn man sich Barcelonas Spiel anschaut, sieht man, dass jeder Ballgewinn auf dem beruht, was die Mannschaft vorher bei Ballbesitz gemacht hat. Barcelona versucht, den Gegner mit möglichst vielen Spielern auf verschiedenen Achsen derart unter Druck zu setzen, dass er, wenn er den Ball erobern sollte, sich im ersten Moment so fühlt, als würde er nach Hause kommen und den Fernseher im Bad finden und die Töpfe im Schlafzimmer. Er muss alles erst neu ordnen, bevor er einen neuen Angriff starten kann. Es geht darum, so viele Gegner zum eigenen Tor blicken zu lassen, dass sie keine Möglichkeit haben, einen Schaden anzurichten.“

Man ahnt, dass sich die Klinsmänner, Löws und Klopps dieser Welt irgendwann einmal dieser Tatsache bewusst geworden sind. Immerhin sind sie es (Klopp als Experte bei der WM 2006), die immer wieder vor der Gefährlichkeit des plötzlichen Ballverlusts im Spielaufbau warnen. Hier lauert die Gefahr auf der einen und die Chance auf der anderen Seite. Aber wie
lehrt man diese Methoden? Wie setzt man dieses Wissen auf dem Platz um? Wie erklärt man einem Spieler diese Philosophie? Hier wird es konkret.

„Alle Kinder beim FC Barcelona lernen, den Ball möglichst mit dem Fuß anzunehmen, der von dort, wo der Ball herkommt, weiter entfernt ist.“

Ich musste den Satz dreimal lesen, bevor ich ihn verstand. Dennoch kommt er – wenn man ihn dann begriffen hat – zunächst wie eine Binsenweisheit daher. Bei hiesigen Trainergöttern wie Otto Rehhagel dürfte er dennoch Stirnrunzeln und die Frage „Warum?“ auslösen.

„Warum? Weil man so das eigene Sichtfeld erweitert, die eigenen Auswahlmöglichkeiten erhöht und im Idealfall eine Art Schmetterlingseffekt erzielt. […] Wenn Du den Ball aber mit dem anderen Fuß annimmst, spielst Du ihn entweder in die Richtung zurück, aus der er kam – oder du brauchst mehr Ballkontakte und mehr Zeit, um das Spiel in die andere Richtung zu lenken.“

Man ertappt sich bei der Frage, warum niemand früher auf diesen Ansatz gekommen ist. Dennoch ist er genial. Man bekommt einen Eindruck davon, wo Guardiola und Lillo damals angesetzt haben: am Fundament. Das Spiel wurde komplett neu geschrieben (nachdem vorher die alten Lehrmeister studiert worden waren). Er erwähnt weiterhin die Wichtigkeit von Fitness (hier liegt der Schwerpunkt auf Interaktion und nicht auf Aktion), Talent und taktischer Aufnahmefähigkeit und warum nicht jeder sehr gute Spieler automatisch eine Verbesserung für das Spiel Barcelonas bedeutet (jeder Spieler sei eine „taktische Tatsache“ und deshalb bereits vorgeformt).

In einem Punkt ist aber auch er hilfos: der Zufall. Was viel zu selten erwähnt wird. Fußball ist noch immer die Mannschaftssportart, die am meisten vom Zufall abhängt (verdrängen Fans allzugerne). Allein die niedrige Anzahl der Tore erhöht die Wahrscheinlichkeit zufälliger Ergebnisse (abgesehen von spielbeeinflussenden Schiedsrichterentscheidungen, etc.).

Zum Schluss hat er dann noch einen guten Rat für all diejenigen Fußballwaeisen parat, die meinen, Barcelona (oder auch die spanische Nationalmannschaft) sei nur dann schlagbar, wenn mal einer dazwischenhaut (stellvertretend u.a. Völler, Beckenbauer) und körperbetont gespielt wird. Genau das Gegenteil sei der Fall, wie das Beispiel der von Lillo sehr geschätzten deutschen 72er-Elf zeigt:

„Wahrscheinlich hätte Beckenbauer damals gegen niemanden lieber gespielt als gegen ein Team, dass, wie Sie sagen, mal dazschwischen haut. Denn das heißt ja auch: am Rande der Legalität, was auf Fouls und Hinausstellungen hinausläuft.“

Angekommen, Rudi?

Ohne das Gefühl zu bekommen, ausgeschlossen zu sein, spürt man als Fan doch: ich verstehe recht wenig von meinem Sport. Und noch etwas fällt einem ein. Die mediale Reaktion auf Klinsmanns Erneuerungsversuche in der deutschen Nationalmannschaft. Wie schwer muss es gewesen sein, gegen alle Widerstände die Innovationen durchzusetzen, die es damals durchzusetzen galt. Man kann von ihm halten, was man will, aber man sollte nicht vergessen, dass die deutsche Nationalmannschaft ohne ihn nicht das wäre, was sie heute ist!

(Hinweis in eigener Sache: Für Allergiker: Dieser Beitrag enthält keinen Humor und kann deshalb bedenkenlos genossen werden!)

Über den Autor: Buxe

Macht in Unterhosen und Lotto. Kunstverständiger Lebemann, der seinem Verein Schalke 04 in unerschütterlicher Hassliebe verbunden ist. Wurstvegetarier und Minigolfgott in Personalunion.

Macht in Unterhosen und Lotto. Kunstverständiger Lebemann, der seinem Verein Schalke 04 in unerschütterlicher Hassliebe verbunden ist. Wurstvegetarier und Minigolfgott in Personalunion.
7 comments
  1. Das ist schon alles sehr interessant. Ich finde ja das Ballannahmebeispiel super. Klingt banal, ich habe aber selbst auch noch nie so drüber nachgedacht. Es ist halt das Schwierigste vom Abstrakten (wir wollen Fußball neu erfinden) zum Konkreten (einzelne Trainingsmaßnahmen) zu kommen.

  2. Ich finde dieses Beispiel auch sehr schön, gerade weil es eine vermeintlich kleine Handlung mit großer Wirkung ist und man eine Ahnung davon bekommt, wie sie das Spiel wahrnehmen (Stichwort Raum im verlinkten Xavi-Artikel). Leider verrät er nicht viel mehr Konkretes, aber dieses winzige Detail hat mich schon glücklich gemacht…

  3. Ich denke, wenn man diesen Schönspielern von Barcelona mal ordentlich auf die Socken gibt, dann spielen die einen auch nicht mehr so her. Aber ich verachte das schöne Spiel ja auch von Geburt an.

  4. Zur Sache: Die Jungs im Gamestra-Forum (*prust*) sind einfach besser informiert als Du, Buxe und haben freundlicherweise das Interview verlinkt: http://forum.laola1.at/viewtopic2.php?p=480437&sid=512f6eadbf20c3f33b407fa1d1d3939a#p480437

  5. Danke, Esleben. Ich bevorzuge die Handarbeit. Das machen wir Journalisten alter Schule so.

  6. Einfach mal den Schlappen drüberhalten und schon ist Essig mit dem schönen Spiel. Dann ist die Frage auch beantwortet, mit welchem Fuß man den Ball annehmen sollte: Mit dem, der weniger weh tut.

  7. Ach Don…Das Schlimme ist, Du meinst es ernst…

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