Quelle: aktion-libero.de

„Lutschertum & Homofick“ – Dortmunder Fan-Poesie

„Lieber ’ne Gruppe in der Kritik als Lutschertum & Homofick“: Am vergangenen Wochenende machten einige Dortmunder Fans durch diesen niveauvollen Debattenbeitrag in Plakatform auf sich aufmerksam, der nicht nur uns mit einigen Fragezeichen im Gesicht zurückließ. Der Versuch einer Interpretation.

Wir haben es hier mit einem modernen Gedicht zu tun, das sich den Stilformen des lyrischen Expressionismus zwischen 1910 und 1925 bedient. Pauperismus, Industrialisierung und die Angst vor dem Weltuntergang versetzten die Menschen in Aufruhr. Durch die Massenproduktion fühlten sich viele nur noch auf ihren Stellenwert als Produktivkräfte reduziert. Das „Ich“ litt daher unter Identitätsverlust und trat in den Hintergrund. Genau dieses Gefühl – übertragen auf unsere Zeit mit den Zwängen der Globalisierung, der Finanzkrise und des Internets – muss die Verfasser des Plakats seit geraumer Zeit umgetrieben haben. Es ist absolut positiv zu bewerten, dass sie sich statt ihrer Fäuste ihres Intellekts bedienen, um auf kreative und lebensbejahende Weise auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam zu machen – nur böse Zungen und übelmeinende Zeitgenossen würden hier vielleicht eine Art geistigen Pauperismus der Dichter sehen.

Kein Elfenbeinturm der Abgehobenheit
Denn betrachtet man den künstlerischen Aspekt, kann das Gedicht gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Der stilsichere reine Endreim „Kritik – Fick“, der übrigens keine morphologisch-lexikalische Besonderheit aufweist, lässt darauf schließen, dass das Künstlerkollektiv mit diesem Wissen um das eigene Können auch gut und gerne 40 Strophen in gleichbleibender Qualität hätte verfassen können. Um die Botschaft jedoch nicht in den Elfenbeinturm der Abgehobenheit aufsteigen zu lassen, entschied man sich für die radikale Verknappung – à la bonheur! Ebenfalls sticht die Dialektik der grammatikalischen Form hervor: Während in der ersten Zeile ein Satz begonnen, allerdings überraschend auf das Verb verzichtet wird, bemerken wir in der zweiten Zeile lediglich zwei Substantive, verbunden durch eine Konjunktion. Durch diesen Kunstgriff verstärken die Verfasser den Charakter der Parolenhaftigkeit.

Nun zum Inhalt der lyrischen Entdeckung: Der Beginn ist kein Zufall, sondern das Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben, mit dem Selbst. Die Künstler erklären, was für sie positiv ist. Nicht umsonst versteckt sich im ersten Wort „Lieber“ die „Liebe“ – laut Wikipedia „die stärkste Zuneigung, die ein Mensch für einen anderen Menschen zu empfinden in der Lage ist“. In der gegenwärtigen Lyrik ist so gut wie nichts Vergleichbares in puncto Philantropie zu finden. Doch es geht weiter: Durch den unbestimmten und gleichzeitig verkürzten Artikel „’ne“ drücken die Verfasser selbstlos aus, dass jede Gruppe in der Gesellschaft Kritik ausgesetzt sein könnte und dass sie sich selbst zum Anwalt der Minderheiten und Entrechteten machen – ein bewundernswert selbstloses Motiv. Doch was heißt „in der Kritik“? Hierüber wird noch zu diskutieren sein, da die Künstler sich hier doch sehr in der Abstraktheit verlieren. Vielleicht ist dies jedoch auch als ein Stoßseufzer einer gepeinigten Seele zu verstehen, quasi ein lyrisches „Ich bin mit der Gesamtsituation unzufrieden und hab auch so ein Scheiß-Leben“.

Von Lutschern und Homos
Doch diese Unbestimmtheit weicht in der zweiten Zeile einer atemberaubenden Konkretion, die sich in einem verbalen Aufbäumen gegen die Lollimarke „Chupa Chups“ Bahn bricht. Denn wie sonst sollte man den in negativer Konotation vorgetragenen Ausruf „Lutschertum“ verstehen? Doch so einfach, wie es auf den ersten Blick scheint, ist es nicht. Natürlich kritisieren die Künstler damit die Industrie, die – in einer Zeit, in der die Löhne von einfachen Arbeitern und Vorständen immer weiter auseinanderdriften – auf Kosten des lutschenden kleinen Mannes Millionen scheffelt. Trotzdem sprechen die Verfasser auch alle an, die sich diesem Lutschertum hingeben. Denn Fakt ist: Wer ständig am Lutscher hängt, macht keine Revolution. Insofern wird das Problem in der lutschenden Sedierung der Massen gesehen. Eine Sichtweise, die von bewundernswerter Reflektionsfähigkeit zeugt.

So eindeutig das erste Substantiv zu verstehen ist, so schwierig wird es beim letzten Wort des Gedichts. „Homofick“ – was will uns das Künstlerkollektiv damit sagen? Hier hilft ein Ausflug in die Welt der lateinischen Sprache. „Homo“ bedeutet übersetzt „Mensch“. Die Verfasser wollen also nicht, dass Menschen einfach so gefickt werden – weder hier noch anderswo. Wir erinnern uns: Um das zu verhindern, stellen sich die Künstler als Gruppe der Kritik (vgl. 1. Gedichtzeile), sie leisten Widerstand. Doch von wem sollen die Menschen nicht gefickt werden? Wer schadet der ganzen Gattung damit? Und genau hier kommen wir wieder auf die erste Zeile dieser lyrischen Meisterleistung zurück: Die Gesellschaft, die Gruppen ins Kreuzfeuer der Kritik nimmt, sowie die Firma Chupa Chups, die aus Individuen lutschende Erfüllungsgehilfen der Reichen und Mächtigen gemacht hat. Dies ist insofern paradox, als dass diese des Lutschertums verdächtigen Personen ja eigentlich dem gleichen Lumpenproletariat angehören, wie die gefickten Menschen in der Gesellschaft. Doch diesen Widerspruch lösen die Künstler absichtlich nicht auf. Er soll alle zum Nachdenken anregen. Die Kernbotschaft: Liebe Menschen, lieber denken als lutschen! Und ich denke, damit sollten sich in einer modernen und toleranten Gesellschaft alle identifizieren können.

Wir hoffen, durch diese Interpretation etwas Licht ins Dunkel gebracht zu haben. Wir würden uns sehr freuen, damit die Gedankenwelt der unbekannten Künstler abgebildet zu haben und auf diese Weise etwas zum gegenseitigen Verständnis in unserer an Werten armen Gesellschaft beizutragen. Wer hätte vor ein paar Jahren gedacht, dass dies ein einfacher Fußballblog zu leisten vermag?

Über den Autor: Guru von der Kreuzeiche

Leidensbereiter sowie leiderprobter SSV-Reutlingen-Fan und Unsympath. Empfindet die Bezeichnung “Unglaublicher Demagoge” als Kompliment. Trinkt was Schnäpse angeht nur klar.

Leidensbereiter sowie leiderprobter SSV-Reutlingen-Fan und Unsympath. Empfindet die Bezeichnung “Unglaublicher Demagoge” als Kompliment. Trinkt was Schnäpse angeht nur klar.
28 comments
  1. Ich denke da etwas einfacher: Hoffentlich gabs für die Verantwortlichen ordentlich auf die Fresse. Gerne auch mit Bordsteinkante.

  2. Du machst gerade deine aggressiven Tage durch oder? ;-) „Scheitel ziehen, wegkärchern, Bordsteinkante“ etc. Was los?

  3. Das Gleiche hat der Guru nur etwas schöner formuliert, mMn.

  4. Die zweite Liga macht im kirre. Wenn wir nicht um die Deutsche Meisterschaft mitspielen, bin ich ungenießbar, das wisst ihr doch. Also seit 1994.

    Aber der Aigner-Transfer ist ne glatte 10/10. Wenn wir in der BuLi im 4-5-1-System spielen, ist die rechte Seite mit Jung-Rode-Aigner echt Zuckerguss.

  5. Ich zitier zum Thema mal die FASZ, Ressort „Feuilleton“, leider gibt es das nicht online:

    „Am Dienstag sprachen der Theologe Hans Küng und der Ex-Fußballer Rudi Völler bei „Gottschalk live“ über den homosexuellen Schützenkönig, der nicht mit seinem Partner auftreten darf – soweit das möglich war.

    Küng: „Heute ist das selbstverständlich geworden, und da kann man nicht einfach die zeit zurück drehen.“

    Völler: „Obwohl ich auch glaube, da wird das letzte Wort noch nicht gesprochen sein, oder?“

    Gottschalk: „Meinst du, dass das noch? Ich weiß nicht, keine Ahnung.“

    Völler: „Ja“

    Gottschalk: „Also auf jeden Fall… Das Thema schwule Fußballer lassen wir jetzt, sonst driftet das völlig weg. Ist auch nicht das, was dich täglich beschäftigt.

    Völler (ironisch): Doch, ich wollte jetzt einige nennen, aber wenn du nicht möchtest, dann?“

    Gottschalk: „Ach, du das wäre… Kennst Du einen? Nein. Aber ich, ich…“

    Völler: „Na, lassen wir das.“

    Gottschalk: „Lassen wir das bleiben und beschäftigen uns mit dem Wetter.“

    Da weißte gar nicht, wo mit kärchern anfangen und vielmehr als Empörung seitens der Borussia wird das Thema nicht nach sich ziehen. Leider.

  6. Sehr schöner Beitrag. Endlich etwas Literaturwissenschaft im Blog. Sehr gut. Zu Rudi Völler: Ich habe schon lange den Eindruck, dass der entgegen der öffentlichen Wahrnehmung zu den unangenehmsten und unreflektiersten Menschen des Rasenballs gehört.

  7. Sehr schöner Artikel, Alex! Du interpretierst mir aus der Seele…;)

  8. Laber hier nicht rum, sag mir lieber, ob ich Montag Alt am Start haben muss.

  9. @Buxe: Es ehrt mich, dass du das Plakat auch so verstanden hast.

  10. Ganz großer Artikel, Respekt

  11. 3Jahre Stadionverbot – alles richtig gemacht! ich denke das Schmerzt da sie vermutlich auch ihre Dauerkarten verlieren.

    allerdings denke ich, werden sie auf anderen Wegen ins Stadion gelangen, wenn nicht in die SüdTribüne.. aber vor Ort allemal.

  12. Ist das noch das Land der Dichter und Denker, in denen solch hochtalentierte Poeten Stadionverbot bekommen? ;-)

  13. Hmm…dieses Plakat ist natürlich desolat, da braucht man ja nicht drüber reden. Aber 3 Jahre Stadionverbot? Wofür denn jetzt genau? Für Geschmacklosigkeit und schlechte Reim-Skills? Ich finde das etwas überzogen, aber das ist ja nix Neues bei der gegenwärtigen Populismus-Orgie von DFB und Vereinen.

  14. Seh ich auch so. 3 Jahre bekommst du bestimmt nicht mal, wenn du ein paar Leuten im Stadion aufs Maul gibst. Aber heutzutage muss man ja immer gleich „ein Exempel“ statuieren.

  15. Naja, homophobe Arschlöcher braucht jetzt wirklich kein Mensch im Stadion.

  16. Das bestreitet ja auch keiner. Dennoch ist es erstmal nicht strafbar, homophob zu sein. Und mich würde tatsächliche die rechtliche Begründung für dieses Stadionverbot interessieren. Man macht es sich halt etwas leicht, alles, was einem nicht gefällt, zu verbieten. Aus dem Auge, aus dem Sinn. So verhindert man das Gedankengut sicher nicht.

  17. Eben. Diskriminierende Inhalte sind bestimmt laut Stadionordnung verboten, von daher ist wohl auch eine Strafe gerechtfertigt. Aber 3 Jahre?

  18. Zum eine sind sicher nicht per se diskriminierende Inhalte verboten, sonst dürfte in Dortmund auch kein „Scheiß Schalke“-Banner hängen. Und dann ist die Frage, inwieweit das Plakat tatsächlich den tatbestand der Diskrimierung erfüllt. Es ist saudämlich, unbestritten. Aber ganz so einfach ist es nicht, wie ich finde.

  19. Ein Auszug aus dem Kleingedruckten der Tickets der Fortuna – das fiel mir jetzt als erstes in die Hände: „Es ist verboten Parolen zu rufen, die nach Art oder Inhalt Dritte aufgrund ihrer Hautfarbe oder Religion, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung diffamieren.“ Den gleichen Passus gibt es noch einmal für Kleidung, Fahnen und Banner und er dürfte sich so auch auf jeder Eintrittskarte fürs Westfalen-Stadion und andere zu finden sein. So lange Schalke oder Dortmund oder welcher Verein auch immer nicht als Religion anerkannt wird, darf man „Scheiß Schalke“ rufen und auf Banner schreiben, solange man will! Und wird dafür auch nicht bestraft. Drei Jahre ist natürlich hoffnungslos überzogen, andererseits schreckt man Nachahmer so natürlich eher ab. Und darum geht’s bei diesem Urteil.

  20. Schon klar, dass sowas in allen Stadion-AGBs steht. Aber juristisch? Ein guter Anwalt würde klipp und klar darlegen können, wieso das entsprechende Plakat keine Diffamierung im juristischen Sinne ist. Und dann einfach mal drei Jahre SV? Die drehen alle durch.

  21. Keine Ahnung, ob die Betreffenden nicht auch schon vorher auffällig geworden sind. Aber drei Jahre hört sich für mich nach Wiederholungstäter an und nicht nach einem einmaligen Ausfall. Dass in der ganzen Diskussion der Maßstab völlig verloren gegangen ist, steht sowieso fest.

  22. Was ist eigentlich mit „Arschloch, Wichser, Hurensohn – deine Eltern sind Geschwister“. 5 Jahre?

  23. Wenn auf Hopp gemünzt: lebenslänglich!

  24. Und was ist mit „Sohn einer herzensguten Frau“?

  25. Stimmt. Das dürfte von der reinen Formulierung her eine klarere Diskriminerung sein. Man kann also folgern: Im Fußball haben homosexuelle Männer inzwischen immerhin eine größere Lobby als Nutten. Wenngleich ich es ja schöner fände, einfach keine von beiden Gruppen zu diskriminieren.

  26. vermutlich liest das hier eh keiner mehr, aber so lustig und interessant dieser artikel auch ist, die plakatsituation wurde hier in einem völlig falschen kontext interpretiert. dass es sich bei den verantwortlichen für das plakat um homophobe oder vielmehr schwulenhasser handelt ist anzunehmen, wobei auch nicht unbedingt gesagt. das plakat ist als antwort auf einen fanstreit zwischen einer ultra-gruppierung (desperados 1999) dortmunds und der bremer fan initiative gegen homophobie im fussball zu verstehen. die genauen hintergründe kann man mit ein wenig internet-recherche in erfahrung bringen. die aktion ist zweifelsohne zu verurteilen, allerdings erscheint sie in diesem lichte doch deutlich harmloser…

  27. Und was an diesem Zusammenhang, der ja bekannt ist, macht das Plakat harmloser oder steht im Widerspruch zum Gesagten, Michael?

  28. Man ist kein Schwulenhasser, wenn man eine Initiative gegen Homophobie im Fußball als Lutscher und Homoficker bezeichnet? Dann hab ich es wirklich nicht verstanden. Die Plakataktion ist demnach auch im genau richtigen Kontext interpretiert, da dieser eindeutig ist.

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