Die verlogene Liga

Zwei Themen bestimmten in den letzten Tagen die Diskussionen abseits des Rasens: Der Spielabbruch in St. Pauli und die Fan-Proteste am Samstag in der Allianz-Arena. Deutlich wurde dabei vor allem eines: Wie verlogen Funktionäre und teilweise auch Journalisten auf einige Themen reagieren, wie mit zweierlei Maß gemessen wird und wie jede Gelegenheit genutzt wird, einen Teil der Fußballfans als pöbelnde Masse abzustempeln.

Wenden wir uns zunächst dem Becherwurf von St. Pauli zu, immerhin erst der zweite Spielabbruch in der Geschichte der Bundesliga, der von Fans provoziert wurde. Ich will jetzt nicht darauf eingehen, wieviele Münzen, Feuerzeuge und Bierbecher jeden Samstag die Hand ihres ehemaligen Besitzers verlassen und auf Reisen gehen. Wer einmal in seinem Leben ein Spiel auf den Stehrängen verfolgt hat, weiß, dass spätestens bei einem Tor nicht nur ein oder zwei Plastikbecher durch die Gegend fliegen (man könnte fast auf den Gedanken kommen, dass diese Becher deswegen aus Plastik sind, damit bei solchen emotionalen Ausbrüchen eben gerade nichts passiert und der Getroffene in den seltensten Fällen zu Boden sinken muss). Aber das ist ja alles egal, weil der Spielabbruch Aytekins in der vorletzten Minute den Regeln entsprach und vielleicht sogar richtig war.

Zweierlei Maß

Oberstes Ziel von DFB, DFL und ihrer Handlanger in den Medienhäusern ist es schließlich, das Produkt Bundesliga Wochenende für Wochenende auf Hochglanz zu polieren und kleinere Scharten so schnell wie möglich auszuwetzen. Schließlich haben sich die Genannten jahrelang Mühe gegeben, den Fußball aus den miefigen Niederungen des Proletariats hervorzuholen und zum Familienevent zu machen. Der Becherwerfer aus St. Pauli wird als irrer Einzeltäter dargestellt, der diese eine, unbedachte Aktion voraussichtlich sein Leben lang büßen wird müssen. Wir erinnern uns an Paolo Guerrero, der aus nächster Nähe einem Zuschauer eine Flasche ins Gesicht warf. Die Folgen für ihn: 5 Spiele Sperre, eine (zugegeben hohe) Geldstrafe und eine Nominierung für den Kader für den UEFA-Cup die Europa-League. Die Kameraden äußerten Verständnis, allen voran Fan-Flüsterer Frank Rost, und dem Übeltäter wurde die vielzitierte zweite Chance dargereicht. Für viele Fans der blanke Hohn, angesichts der Vergabepraxis von Stadionverboten, welche mit Rechtsstaatlichkeit nur selten etwas zu tun hat. Und nicht nur im Falle des Fans von St. Pauli spricht keiner auch nur eine Silbe von einer zweiten Chance.

Die „Unschuld verloren“

Aber anscheinend hat St. Pauli nun seine „Unschuld verloren“. Eine Unschuld, die sich der Verein durch Stripperinnen in den „Séparées“ genannten Logen erst mühsam aufgebaut hatte. Eine Unschuld, die jetzt wohl nur noch im beschaulichen Kraichgau zu finden ist, wo Wohltäter Hopp Jugendliche von der Straße holt und ihnen eine Perspektive im Fußball bietet. Und wenn das Menschenmaterial in Nordbaden nicht ausreichen, werden eben, ganz unschuldig, 14-Jährige aufs aggressivste aus Berlin abgeworben.

Der Profifußball hat seine angebliche Unschuld 1973 in Braunschweig ins Schaufenster gestellt und seitdem etliche Male verkauft, sei es nun in Hoffenheim oder Leipzig, in Salzburg oder Manchester.

Die „Grenzen des guten Geschmacks“

Doch nicht nur ihre Unschuld werfen die Fans becherweise davon, nein, sie übertreten auch noch die Grenzen des Guten Geschmacks. Am Samstag richtete sich die Wut der Kunden Fans des FC Bayern gegen den Lokalrivalen aus Giesing und gegen Beinahe-Lichtgestalt Uli Hoeneß. Es ging um die inzwischen kaum noch zu durchschauende finanzielle Zukunft des TSV 1860 München und deren Verwicklung mit den „Roten“.

Geschmacksgrenzen enden anscheinend vor dem Wort „Schwein“ und weit vor Fadenkreuzen. Diese nämlich fanden sich auf Doppelhaltern, Blockfahnen und Spruchbändern in der Münchener Südkurve wieder und gehören demnach aufs Schärfste verurteilt. Ähnlich wie einst der weitestgehend folgenlose „Pfalzüberfall“ der Frankfurter Ultras oder der berüchtigte Doppelhalter aus Dortmund. Ob die angeführten Beispiele nun zu den subtilsten Arten der Meinungsäußerung gehören ist sicher fraglich, aber solange die meisten Vorstandsetagen von professionellen Dialogverweigerern bevölkert werden, ein Großteil der Fans eindimensional als Störer abgestempelt wird und freiheitsberaubende Repressionsmaßnahmen kritiklos hingenommen werden wird bei keiner der beteiligten Parteien so etwas wie Verständnis aufkommen.

Vielleicht lohnt es sich aber auch, zu schauen, wer sich innerhalb der nun schon öfters zitierten Grenzen bewegt und auf diesem rutschigen Parkett ganz sicher unterwegs ist: Uli Hoeneß zum Beispiel, der Heribert Bruchhagen vorwarf, „irgendein Pülverchen im Kaffee“ gehabt zu haben. Eine mehr als geschmackvolle Anspielung auf Christoph Daums über zehn Jahre zurückligende Kokain-Affaire. Oder die gesamte Führungsriege des FC Bayern, die sich in dieser Saison das eine oder andere Mal in peinlichen Prognosen verlor (Dortmund, Hannover) und einst Jan Schlaudraff verpflichtete, nur um mal die Muskeln spielen zu lassen. Schlaudraffs Karriere war daraufhin beinahe beendet und der FC Bayern verfolgt heutzutage ganz andere „Strategien“.

Und auch die geschmackvolle Kunst des Verdrängens wird auf der Funktionärsebene zur Perfektion gebracht. Oliver Bierhoff zum Beispiel wertet eine satirische (und zutreffende) Äußerung in einem Tatort, der sich um das Thema Homosexuelle im Fußball bemühte, als Angriff auf seine „Familie“ (Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Hund, Kombi, Haus) Nationalmannschaft. Und die UEFA zensiert die Zaunfahne eines Fanclubs aus Dachau.

Abkehr als letztes Mittel?

Dies alles macht es für mich Tag für Tag schwerer, dem Profifußball noch mit der Begeisterung eines Fans zu folgen. Als Fan nicht nur der Sportart und spektakulärer Aktionen einzelner Spieler, sondern als Fan eines Vereins, der Stimmung in einem Fußballstadion und als Fan eines nur mehr aus der romantisierten Vergangenheit hallenden Gemeinschaftsgefühls.

Über den Autor: schneider3

Mildernde Umstände aufgrund familiärer Vorschädigung durch zwei dominante Brüder. Normalerweise erlebt das Weißbier bei ihm das Mittagsläuten nicht. Kaiserslautern-Fan. Weiß der Teufel, warum.

Mildernde Umstände aufgrund familiärer Vorschädigung durch zwei dominante Brüder. Normalerweise erlebt das Weißbier bei ihm das Mittagsläuten nicht. Kaiserslautern-Fan. Weiß der Teufel, warum.
19 comments
  1. Ganz starker Artikel!

    Ich persönlich habe mir in den vergangenen Tage wirklich überlegen müssen, wie eigentlich meine Meinung zu den angesprochenen Vorfällen ist. Ich finde, dass man sehr wohl der Meinung sein kann, dass so ein Depp, der einen Bierbecher auf den Assi wirft, bestraft gehört (in welcher Form auch immer). Und man kann auch der Meinung sein, dass die Angriffe auf Uli Hoeneß auch irgendwie beschissen sind, wenn man sich wirklich mal seine Verdienste für den Verein anschaut.

    Was ich an diesem Artikel so grandios finde, ist, dass er ganz hervorragend die Doppelmoral in der Liga bloßstellt. Stichwort „Guererro“, Stichwort „Pülverchen“. Und genau vor diesem Hintergrund ist das Gelaber der Verantwortlichen einfach nur noch eklig.

  2. Ich hätte nicht gedacht, dass mir ein versoffener Lauterer Kartoffelbauer-Bubi mal so aus der Seele sprechen würde… :-)

  3. sehr kluger artikel. s. kreuzeichenguru.

  4. Die Bigotterie läßt grüßen, vom höcksken aufs stöcksken oder ist der Text satirisch gemeint?
    Wenn nein, dann einfach mal den Rechner ausmachen, raus an die frische Luft, z.B. in den Park, gibt noch mehr wie Fuppes!

  5. Ist mir auch zu viel Durcheinander – Themen, die nichts miteinander zu tun haben und jeweils für sich zu bewerten sind, werden hier in einen Kontext gepresst. Zu unfifferenziert, vor allem die Schlaudraff-Geschichte bedient alte Klischees.

  6. Schönes Ding!

    IMHO gehört der Becherwerfer selbstredend bestraft. Doppelmoralisch ist hier die Schonung von Guerrero. Ich hätte beiden Tätern massiv Sozialstunden aufgebrummt, das dürfte wesentlich wirkungsvoller sein als Geldstrafen. 4-6 Wochen Vollzeit in einer sozialen Einrichtung und beide Täter tun nicht nur Gutes, sondern kämen auch zum Nachdenken.

    Und dass der Hoeness sehr gut austeilen, aber weniger gut einstecken kann, ist ja nicht erst seit gestern bekannt. Alleine, dass ihn die Personalie Daum immer noch zu solchen Reaktionen veranlasst, zeigt, dass er die damals forschen Töne von Daum als Kölner Jungtrainer noch immer nicht verwunden hat. Und das war im Jahres des Herrn 1989. Auch hier ist von „zweiter Chance“ nichts zu sehen. Wenn allerdings ein Bayernspieler ne Pulle werfen würde, wäre Hoeness der erste, der sie einfordert.

  7. Mag sein, dass hier (zu) viele Themen auf einmal behandelt werden. Der Grundansatz ist allerdings richtig. Wobei ich gestehen muss, dass mich alles rund um die Bayern nicht interessiert. Wegen des Getues um den ach so kriminellen Bierbecherwerfer habe ich allerdings noch immer einen Hals.

  8. Bei nächster Gelegenheit bewerfe ich Dich auch mal mit nem Bierbecher, mal gucken, wie Du reagierst…

  9. @Don: Würde ich sehr begrüßen. Der Unterschied ist, dass du du dafür kein Lokalverbot bekommst. Das wäre nämlich eine deiner harmloseren Aktionen.

  10. Was meinst Du, wie viele Bierbecher ich im Stadion (Stichwort G-Block) schon abbekommen habe, Du Vollhonk? Nur, weil Du VIP-Logen-Hure keine Ahnung mehr vom richtigen Leben hast, brauchst Du nicht rumkrakeelen. Und glücklicherweise hat niemand derjenigen, der Sie geworfen hat, irgendeine Strafe bekommen. Fußball ist halt kein Golf. Kapiers mal, Du Bonze!

  11. Selten wurde ein hinkenderer Vergleich gezogen als von unserem Vorzeige-Asi aus Block G (wann warst Du denn das letzte Mal dort? Und den HP-Besuch bitte nicht mitzählen).

    Was hat eine Bierdusche im Block nach einem (Gegen-) Tor mit einer gezielten Tätlichkeit gegen eine bestimmte Person zu tun?

  12. Bei einer Tätlichkeit ist doch scheißegal, ob sie gezielt oder aus Versehen einen bestimmten Menschen trifft, oder? Wenn ich irgendwo eine Bombe zünde, ist doch juristisch gesehen völlig egal, ob ich XY oder ZZ treffe. Insofern ist es vollkommen wurst, ob der Bierbecherwerfer mich oder den Schiri-Assistenten trifft. Oder gilt dessen bemitleidenswerter Gesundheitszustand mehr als meiner?

    Fakt ist nur: Ich sacke halt nicht peinlichst zusammen und mache auf sterbenden Schwan(z), weil ich ein Bier in den Nacken bekomme. Ich hebe stattdessen den Becher auf und sauge den Rest aus!

  13. Wenn ich Dir in der Pinte gezielt eine aufs Maul haue, weil Du mal wieder unterirdischen Dünnschiss redest, hat das für Dich also die gleiche Qualität, als wenn Du in irgendeiner Schlägerei (mit der Du nix zu tun hast) aus Versehen in eine Faust reinläufst?

    Zumindest für mich ist das ein himmelweiter Unterschied!

  14. Der DFB hat gesprochen, St. Pauli macht ein Spiel unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Interessant was der Bund Deutscher Kriminalbeamten davon hält:

    Der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) hat das Urteil scharf kritisiert. „Gewalt ist durch nichts zu rechtfertigen, aber deswegen darf man nicht einen ganzen Verein und die Fans von zwei Mannschaften in Geiselhaft nehmen. Hier soll ein Exempel statuiert werden. Gleichzeitig wird massiv in den Abstiegskampf eingegriffen“, sagte der Hamburger BDK-Landesvorsitzende André Schulz. „Ich habe für diese Überreaktion keinerlei Verständnis. Und ich bin als HSV-Fan bei dieser Aussage absolut unverdächtig“, so Schulz im „Hamburger Abendblatt“.

    via spiegel.de

  15. Das ist Gerechtigkeit: St. Pauli bekommt ein Geisterspiel und Diego bekommt für seine Sauerei gar nichts. Die DFL will halt unbedingt, dass Wolfsburg drinbleibt. VW ist halt ein „big spender“. Verlogene Bande.

  16. Bzgl. verlogen (Quelle jeweils der Kicker):

    04.04. „Wie auch immer das Sportgericht urteilen wird: Der Verein werde die Strafe akzeptieren. Das kündigte Sportdirektor Helmut Schulte an. “
    05.04. „Die Bekanntgabe der Strafe für die Hamburger steht weiterhin aus, die Bandbreite reicht von einer Geldstrafe über ein Spiel vor leeren Rängen bis zu einer Platzsperre. Die Entscheidung will der DFB noch in dieser Woche fällen.
    St. Paulis Sportdirektor Helmut Schulte hatte bereits im Vorfeld angekündigt, die Strafe zu akzeptieren.“

    08.04. „Der FC St. Pauli hatte dem Antrag des Kontrollausschusses zuvor nicht zugestimmt und kann gegen das Urteil vom Freitag noch bis Montag Einspruch einlegen. „Das ist ein zu hartes Urteil“, hatte Teammanager Christian Bönig schon nach dem Antrag des Kontrollgremiums geäußert: „Das war ein Einzeltäter, der in einer Affekthandlung den Bierbecher geworfen hat. Das war nicht organisiert. Außerdem wird in Werder Bremen ein Unbeteiligter bestraft. Das können wir nicht hinnehmen.“ Auch die Gästefans sind von der Partie ausgeschlossen.“

  17. Großartig!

  18. Dass Diego wieder nix bekommen hat, ist der größte Witz! Der ist Wiederholungstäter und wurde bislang noch kein einziges Mal bestraft.

    Gegen Frankfurt war das der gefährlichste WOBler. Ohne den hängen die Offensiv ja so richtig in der Luft.

    Auch damit wird direkt in den Abstiegskampf eingegriffen. Erbärmlich.

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