Zurück in die Achtziger

Keine Angst, mit der TV-Sensation des Jahres werden wir uns noch ausführlich beschäftigen, hier und jetzt soll uns nur die Qualität der EM 2012 interessieren. Die 11 Freunde beklagen zurecht eine der langweiligsten Europameisterschaften seit langem: mangelndes Tempo, keine Überraschungen, keine Stimmung in den Stadion, alberne Einpeitschversuche, wie der UEFA-Countdown vor dem Anstoss.

Fair geht vor

Alles richtig analysiert. Beschränke ich mich aber auf den fußballerischen Part ihrer Analyse, habe ich ein neben dem Gefühl der Langeweile vor allem ein Deja-Vu. Die EM 2012 wirkt fußballerisch wie ein Rückfall in die Achtziger. Minus die Brutalität, denn fair ist die EM bisher. Erst eine rote Karte in 28 Spielen, dazu zwei gelb-rote Karten, von denen zumindest die gegen den Griechen Sokratis fragwürdiger Natur war. Das ist natürlich nur zu begrüßen, trotzdem sieht die EM wie ein Wiedergänger überwundener Zeiten aus.

Betonabwehr

Im Viertelfinale war es besonders auffällig. In jedem der vier Spiele gab es ein Team, das sich hauptsächlich darauf beschränkte, zwei dicht gestaffelte Viererreihen vor dem eigenen Strafraum zu platzieren und das Spielgerät großzügig der gegnerischen Mannschaft zu überlassen (Extrembeispiel England kam gestern in 120 Minuten auf keine 30 Prozent Ballbesitz). Die nehmen den Ball dankend an, und spielen in endlosen Ballstaffetten rund um den Strafraum, als wäre man beim Handball. Als hätten viele Teams sich in Sachen Videoanalyse auf das System Chelsea beschränkt, feierte im ersten Spiel der Italiener auch noch das 3-5-2-System seine Wiedergeburt. Mit De Rossi zentral in der Abwehr gab es das erste Mal seit langem auch wieder so etwas wie einen Libero, der in diesem Fall allerdings wesentlich spielstärker war, als die großen freien Männer der 80er Jahre – remember Stielike?

Betonfüße

Bedingt durch die engen Abwehrreihen und die besonders bei England im gestrigen Spiel, aber auch bei Griechenland und Frankreich ausgeprägte Unlust bzw. Angst, auch nur irgendetwas nach vorne versuchen zu wollen, bewegen sich die Spieler zwar viel auf dem Feld, zumeist aber in einem Tempo, das einem Schneckenrennen gleich. Besonders Balotelli wirkte im gestrigen Spiel als hätte er Betonschuhe an, Spritzigkeit war bei seinen Sprints jedenfalls nicht zu erkennen. Dazu kommt, dass in einer Vielzahl der bisher gespielten Spiele ab der 60. Minute die Teams ausgepumpt und platt wirken, als hätten sie Montagabend im DSF antreten müssen. In der Ukraine mag das schwül-warme Wetter seinen Teil dazu beitragen, eine wirkliche Entschuldigung für den teilweise desolaten konditionellen Zustand der Teams ist das nicht. Gut möglich also, dass sich am Ende  – zurück in die Achtziger – die Deutschen bei diesem Turnier durchsetzen können, dank ihrer Physis.

Die Auslosung

Gerne wird die Europameisterschaft als das im Vergleich zur WM schwierigere Turnier bezeichnet. Das mag für einzelne Vorrundengruppen zumindest auf dem Papier gelten, muss für diese EM aber in Abrede gestellt werden. In Gruppe A wie in Gruppe D der EM befand sich schließlich kein Team, das ernsthaft für den Titel in Frage gekommen wäre. Mehr noch: Keins der Teams aus diesen beiden Gruppen glaubte an seine Chance, ins Halbfinale einziehen zu können.  Stattdessen wurde sich am eigenen Strafraum eingeigelt, und sich wie das Kaninchen vor der Schlange dem eigenen Schicksal ergeben. Abgesehen davon wir die Qualität beim nächsten Turnier noch weiter abnehmen – durch die Aufblähung des Teilnehmerfeldes auf 24 Nationen.

Kein Mumm, kein Tempo, keine Spannung, das grassierende EM-Fieber, das die Medien für Deutschland behaupten, hat sich bei mir bisher noch nicht eingestellt. Viel Zeit dafür bleibt nicht mehr, mich zu überzeugen. Auf dem Papier ist jedenfalls alles für ein rauschendes Finale der EM 2012 bereitet, aber Papier ist geduldig…

Foto: Steffen Zahn/flickr.com

Über den Autor: esleben

Verrät als Freiburg-Fan Heimat wie auch Elternhaus und trinkt ansonsten ausschließlich Veuve Clicquot. Wer wohnt schon in Düsseldorf? Mehr über Esleben auf Google+

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11 comments
  1. Hmm… so ganz kann ich das nicht teilen. Richtig ist, dass viele Mannschaften, die auch einen „Namen“ haben wie England und Frankreich den Fußball weitestgehend verweigert haben. Ich finde jedoch das im Gegenzug Portugal, Spanien, Deutschland und mit Abstrichen Italien durchaus Unterhaltung geboten haben. Die einzige Mannschaft, die wirklich an die 80er erinnert, ist England. Schlimm. Abgesehen davon: Mir geht diese Fairness auf den Sack! Da und nur da könnte man sich etwas „von früher“ abschauen. Aktuell kann ich ja nichtmal die Italiener hassen, so sauber wie sie spielen.

  2. Sehe das genauso wie der Goldschuh. Es gab doch über das ganze Turnier gesehen viel Mumm und auch Tempo. So richtig schlecht waren nicht viele Spiele und ich finde auch nicht, dass die im Halbfinale stehenden Mannschaften 80er-Jahre-Fußball zeigen. Erschreckend ist eigentlich nur die Schwäche mancher „großen“ Fußballnation und wie sich Tschechien und Griechenland im Viertelfinale verhalten haben. Aber dass die Mauertaktik keine Erfindung der EM ist, hat man ja in der CL gesehen.

  3. @ Guru: Das ist richtig. Früher haben Außenseiter in der Situation von Griechland oder Tschechien gerade mutig gespielt, denn sie haben ja eigentlich nichts zu verlieren. Heute mauern die sich komplett ein. Was ich nicht verstehe, besonders weil es halt nie klappt.

  4. Ich denke, das Problem liegt auch darin, dass Nationen wie Frankfreich und England, auf kleinerem Niveau Tschechien, gerade einen Umbruch erleben.
    Okay, bei Frankreich ist die Generation nicht alterstechnisch sondern eher charakterlich am Ende, aber gerade bei England und bei Tschechien ist gerade fußballerisch eine echte Dürreperiode zu beklagen, sodass diese Nationen den guten Mannschaften spielerisch klar unterlegen sind. Da kann man ihnen eigentlich keinen Vorwurf machen, dass sie sich so hinten reinstellen, das ist ihre einzige Chance gewesen.
    In ein paar Jahren kann es schon wieder anders aussehen.

    Wir sehen gerade, dass Spanien und Deutschland, knapp dahinter vielleicht Portugal und Italien, den anderen weit voraus sind und dass vor allem alle anderen das auch ganz genau wissen. Ergo stellen sie sich hinten rein.
    Dazu kommt die unerwartete Schwäche der Holländer, die wohl auch ein ziemliches charakterliches Problem (und ein Taktik-, also Trainerproblem).
    Macht dann eben summa summarum ein Turnier, das nicht gerade von engen, mitreißenden Spielen geprägt war. Vielleicht ändert sich das ja jetzt im Halbfinale, da seh ich die Mannschaften eher auf Augenhöhe als vorher.
    Vielleicht aber auch nicht, die Portugiesen stellen sich ja auch ganz gerne rein und vorne hilft der liebe Christiano.

  5. @Max: Gut möglich, dass es auch daran liegt. Andererseits stehen jetzt die vier Teams im Halbfinale, deren Trainer den größten Plan davon haben, wie ihre Teams spielen sollen. Prandelli hat den Italienern ja nicht nur taktisch Neues verordnet, sondern ihnen auch den größten Teil ihrer Lamentos abgewöhnt. Dass Spanien und Deutschland auf dem Platz wissen, was zu tun ist, ist nichts Neues. Da sehe ich zum Beispiel bei England das viel größere Probleme, Hodgson wirkte eben wie ein Relikt aus den 80er Jahren, die Griechen mit ihrem antiquierten Spielstil sowieso. Schweden spielt auch seit Jahren den gleichen Stiefel, und scheitert damit jedes Mal aufs Neue.

  6. Man fragt sich halt angesichts dieses Leistungsgefälles, wie das erst bei der nächsten EM mit 24 Mannschaften werden soll…

  7. Ja, das wird ganz wunderbar werden, vor allem müssen sich ja bei sechs Gruppen dann auch die vier besten Gruppendritten fürs Achtelfinale qualifizieren. So kann man sein eigenes Turnier natürlich auch beschädigen.

  8. Das wird das Turnier der „Lucky Loser“. Da schafft es dann nicht mal mehr Holland, in der Vorrunde rauszufliegen.

  9. Es wird halt wie bei der WM. Nur uncooler, weil halt Jamaika nicht dabei ist.

  10. Dafür die Balkan-Brasilianer.

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