Jens Lehmann: Größer als Gott

Wer ist eigentlich dieser Jens Lehmann? Wer naiverweise glaubt, in der Autobiographie „Der Wahnsinn liegt auf dem Platz“ etwas über den „Menschen Lehmann“  (J. B. Kerner, R. Beckmann, M. Lanz) zu erfahren, wird auf jeden Fall enttäuscht. Denn auch wenn sonst nicht viel Inhalt drinsteckt, zumindest eines wird klar: Der ehemalige Nationaltorhüter ist kein Mensch, sondern ein  – zumindest in der bescheidenen Sicht seiner selbst – gottgleicher Torhüter. Natürlich der beste der Welt, selbstverständlich Vergangenheit und Zukunft mit eingeschlossen. Ein geiler Typ ist er natürlich obendrein.

Es ist schon ziemlich „schwere Kost“ (W. Klitschko), was der Jenser und sein, haha, „Co-Autor“ Christof Siemes dem geneigten Leser da auftischen. Selten gingen schwer erträgliche, unironische Selbstbeweihräucherung Hand in Hand mit übertriebenem Hang zum Egozentrismus. Und das mag was heißen, denn die Autobiographie von Efan Steffenberg konnte seinerzeit in dieser Hinsicht auch schon Maßstäbe setzten. Jedenfalls fügt Lehmann dem unseligen Genre „Fußballerautobiographien“ ein weiteres gruseliges Kapitel hinzu.

Faszinierend! Egal wo man das Buch aufschlägt, stößt man auf einen Lehmann, der mal wieder alles richtig gemacht hat. Sei es bei seinem Karierestart in Schalke oder auch später bei Dortmund und Arsenal. Prinzipiell war er immer kompletter, besser und intelligenter als alle um ihn herum. Zumindest letzteres dürfte ihm bei Konkurrenten wie Roman Weidenfeller, der ihn übrigens seit seinem ersten Tag (aus Lehmanns Sicht Majestätsbeleidigung, aus meiner Sicht totaler Realitätsverlust) bei Dortmund als Nummer eins ablösen wollte, nicht überaus schwer gefallen sein.

Selbstreflektion nicht vorhanden

Insgesamt liest sich das Machwerk einfach überall ungefähr so:

„Inzwischen spielt jeder Torwart, der ein guter Torwart sein will, genauso. Oder versucht es zumindest.“

Oder:

„Ich merkte, dass man im Leben ohne Zielstrebigkeit nicht viel erreichen kann. Diese Zielstrebigkeit hat sich fortan wie ein roter Faden durch mein Leben gezogen. Ich hatte bei allen Tiefschlägen, die ich in meiner Fußballzeit erlebt habe, immer das Vertrauen, dass alles wieder in die richtigen Bahnen laufen wird.“

Oder:

„In England nannten sie mich manchmal ,Mad Jens’. Das war vor allem auf meine sehr offensive Spielweise bezogen. (Anmerkung des Verfassers: Wer’s glaubt.) Aber meine Art zu spielen ist alles andere als wahnsinnig, im Gegenteil, sie ist das Ergebnis kühler Analyse von Wahrscheinlichkeiten.“

Oder:

„Die meisten meiner Torhüterkollegen starren in erster Linie auf den Ball. […] Erst da habe ich wirklich verstanden, warum Kahn viele Situationen nicht schon vorher gesehen und entschärft hat: Wer nur auf den Ball guckt, weiß allein, wo er ist, nicht wo er sein wird.“

Oder:

„Aber in der Zentrale des Spiels hätte ich einen Platz finden können – weil man auch dort das Spiel lesen können muss, was mir von Anfang an leicht gefallen ist.“

 

Zwei Fehler (zumindest mehr habe ich im Buch nicht gefunden) hat Jens Lehmann in seiner Karriere aber dann doch gemacht. Zum einen nennt er den völlig überhasteten Wechsel von Mailand zum BVB, zum anderen die Aktion in Mainz, bei der er einem Fan die Brille wegnahm. Ansonsten war er immer geil und hat immer recht gehabt. Selbstreflektion: quasi nicht vorhanden.

Doch natürlich gibt es auch die unterhaltsamen Stellen. Zum Beispiel wie Lehmann quasi im Vorbeigehen erwähnt, dass Toni Schumacher (übrigens seit dem Jacketkronen-Spiel gegen Frankreich sein Torwartidol) in seiner Schalker Zeit am Tag nach dem Spiel grundsätzlich im Entmüdungsbecken eine Flasche Champagner geleert hat und sich dabei auch nicht vom Trainer stören ließ. Überhaupt Toni Schumacher. Der ehemalige Nationaltorwart ist so etwas wie ein Fixpunkt in Lehmanns Torwartkarriere, positiv wie negativ: So ließ Jens Lehmann Schumacher einmal bei sich in London wohnen, was diesen nicht hinderte, Lehmann später mehrere Male bei der BILD anzuschwärzen und Oliver Kahn zu pushen – so zumindest Jensers Sichtweise. Lustig sind auch die Schilderungen von Aleksandar Ristics Trainings-Methoden. Lehmann: „Ein Fußball-Psychopath“.

Lob des Verrückten

Trotz aller Lesequal möchte ich am Ende dieses Beitrags ganz klar für den verrückten Jens Partei ergreifen, denn ich fand ihn als Torwart richtig klasse und als Typen extrem unterhaltsam. Welcher Torwart dieser gegenwärtigen, oft zitierten jungen und so vorbildlichen Generation wird jemals in der Halbzeit mit der S-Bahn nach Hause fahren („Ich dachte, der Trainer möchte, dass ich gehe.“) seinem Abwehrspieler das Stirnband runterreißen („Ich hatte das Gefühl, er hört meine Kommandos nicht.“), den Schuh eines Gegenspielers auf das Tor werfen („aus Sicherheitsgründen“) und einem Fan die Brille wegnehmen („Ich hatte nur den Wunsch, er möge die Klappe halten.“)? Totallangweiler wie René Adler sicher nicht. Und Asis wie Weidenfeller fehlen für solche Quatsch-Aktionen einfach der Einfallsreichtum. Einziger Hoffnungsschimmer ist da immer noch Tim „Den Elfmeter kann man schon geben, ich halt ihn dann eh“ Wiese, der sich aber scheinbar nur noch aufs Hubschauberfliegen konzentriert und immer seltener auf den Putz haut.

Jens Lehmann war wirklich ein großer Torwart mit einer veritablen Vollmeise. Aus seiner Autobiographie hätte man viel mehr machen können, ja müssen, wäre doch nur ansatzweise die Bereitschaft zum Augenzwinkern und zur Selbstironie vorhanden gewesen. Vom, naja, etwas simplen Schreibstil gar nicht zu sprechen. Egal, so scheiße das Buch ist, ich habe es mit einer Mischung aus Respekt und Ekel gern gelesen. Mach et jut, Mad Jens!

Und jetzt freue ich mich auf die Autobiographie von Ansgar Brinkmann.

Über den Autor: Guru von der Kreuzeiche

Leidensbereiter sowie leiderprobter SSV-Reutlingen-Fan und Unsympath. Empfindet die Bezeichnung “Unglaublicher Demagoge” als Kompliment. Trinkt was Schnäpse angeht nur klar.

Leidensbereiter sowie leiderprobter SSV-Reutlingen-Fan und Unsympath. Empfindet die Bezeichnung “Unglaublicher Demagoge” als Kompliment. Trinkt was Schnäpse angeht nur klar.
2 comments
  1. Sehr schön, ab jetzt gibt es hier jeden Tag die Rezension einer Torwart-Autobiographie zu lesen…

  2. Was nicht das schlechteste wäre…

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