1860 II – SSV Reutlingen – oder vom Niedergang des Amateurfußballs

Eigentlich dachte ich, mein letzter Stadionbesuch wäre das „Double“ vor vier Wochen in Bochum und Lautern gewesen. Allerdings hatte ich die Rechnung ohne den Wirt gemacht und vergessen, dass in der Regionalliga ja noch einige Spiele auf dem Plan standen.

Mich erreichte schließlich der Ruf aus Reutlingen, den Saisonabschluss doch im altehrwürdigen Grünwalder Stadion zu begehen. Die Zusage fiel mir nicht schwer, konnte ich so die wichtigen Groundhopperpunkte für das Stadion auch noch „offiziell“ einfahren und außerdem war ich ja eh vor Ort. Punkt 13 Uhr, genau eine Stunde vor Anpfiff, betrat ich also den Gästeblock und war erster und einziger Zuseher. Die 250 m² teilte ich mir zu Beginn mit zwei eher entspannten Ordnern, bis dann nach und nach die „rotgedressten“ (regionale Qualitätspresse) Reutlinger eintrafen. Vorher orderte ich allerdings noch lecker was zu essen (Matschiges Brötchen, drei Scheiben Käse, keine Butter) und ein kühles Helles (ziemlich akzeptabel). Die Kollegen aus Reutlingen waren bereits um sieben Uhr morgens aufgebrochen, kamen also in entsprechendem Zustand an. An dieser Stelle geht ein großes Lob in Richtung des Ordners, der meinem gewaltsuchenden Hooliganfreund eine Packung Zigaretten holte, da dieser den Polizeikessel nicht verlassen durfte, um kurz zum 10 Meter entfernten Zigarettenautomat zu gehen. Ohnehin wurden die 400 durchgehend friedlichen Reutlinger bereits am Bahnhof wie Schwerverbrecher von schwarz dunkelblau gekleideten USK-Einheiten in Empfang genommen und durchsucht. Leider ein gewohntes Bild in und um bayerische Stadien. Sehr schön gestaltete sich schließlich auch die Rückreise. Die Reutlinger Fans wurden, im Sinne der extrem notwendigen Fantrennung, gefühlte fünfmal durch den U-Bahnhof hin und her gejagt, nur um schließlich doch gemischt mit Löwenfans (friedlich) in Richtung Hauptbahnhof zu fahren. „Viel zu langweilig,“ dachten sich wohl auch die Ulmer Sympathen, die den Zug der Reutlinger in Neu-Ulm mit Steinen und Flaschen bewarfen und sich mit der Polizei prügelten…

Aber zurück ins Stadion: weitere Helle wurden eingenommen und von den sieben Toren der 6:1-Packung immerhin zwei aktiv miterlebt. Vom „ein letztes Mal Vollgas geben“ der Szene-E wollten wir uns irgendwie nicht mitreißen lassen. Vielmehr wurden Anekdoten zweier Bekloppter (jeweils 20+X Saisonspiele) ausgetauscht, launig die wichtigsten Ultra-Zitate rezitiert („Fußballfans sind keine Verbrecher“, „In den Farben getrennt, in der Sache vereint“, usw. usf.) und das Wetter genossen.

Ein letztes Mal schien also die Sonne über dem SSV Reutlingen, was der schönen Kulisse in diesem Schmuckkästchen auf jeden Fall angemessen war. 400 Reutlinger und Stuttgarter, sowie ca. 2.500 Löwenfans sorgten für eine, in der vierten Liga wohl selten erlebte, gute Stimmung. Das Transparent „Tradition für Geld geopfert – Kämpfen SSV!“ der 60er-Fans wurde wohlwollend aufgenommen, erinnerte aber auch daran, dass das Ergebnis dieses Spiels vollkommen egal war. Der SSV Reutlingen hatte vor einigen Wochen bereits Insolvenz angemeldet und muss damit, erneut, mindestens in die Oberliga absteigen. Sorgte 2002 noch ein Verstoß gegen die Lizenzauflagen für einen Punktabzug, ist es diesmal eine zu hohe Schuldenlast, die das Aus und den Versuch eines Neuanfangs bedeutet.

Besonders bitter: Ich erinnere mich noch, wie ich am 31. Spieltag der Saison 2007/08 im Stadion an der Kreuzeiche stand und ein 2:0 gegen den FC Ingolstadt bewunderte. Reutlingen lieferte ein sensationelles Spiel ab und nach dem Auswärtssieg eine Woche später, hätte genau noch ein Punkt gefehlt, um in die neu gegründete dritte Liga aufzusteigen. Weder gegen Pfullendorf, noch gegen die Sportfreunde Siegen gelang dieser.

Keiner weiß nun, wie es mit der Abteilung Fußball des SSV Reutlingen weitergeht. Man hört von internen Streitigkeiten, da sich die anderen Abteilungen gegenüber dem Fußball benachteiligt sehen und die Fanbasis dürfte in der Oberliga auch weiter bröckeln. Auf jeden Fall heißt es nächste Saison „Auswärtsspiel in Bahlingen“ statt „Heimspiel gegen Dresden“. Wie schwierig es für Vereine jeder Art und Herkunft ist, in der Regionalliga zu überleben, zeigt auch der Blick nach Essen, Berlin, Siegen oder Bamberg. Eigenständige Vereine haben zunehmen Probleme in der ehemaligen dritten Liga zu überleben, ersetzt werden Sie in erster Linie durch die zweiten Mannschaften größerer Vereine oder Marketingvehikel wie RB Leipzig.

Welche Zukunft die Regionalliga abseits von Profifußball und Fernsehgeldern also überhaupt noch hat, steht also in den Sternen. Der Amateurfußball befindet sich jedenfalls in einer tiefen Krise, jenseits der Aufmerksamkeit von Fernsehzuschauern und Fußballkonsumenten.

Über den Autor: schneider3

Mildernde Umstände aufgrund familiärer Vorschädigung durch zwei dominante Brüder. Normalerweise erlebt das Weißbier bei ihm das Mittagsläuten nicht. Kaiserslautern-Fan. Weiß der Teufel, warum.

Mildernde Umstände aufgrund familiärer Vorschädigung durch zwei dominante Brüder. Normalerweise erlebt das Weißbier bei ihm das Mittagsläuten nicht. Kaiserslautern-Fan. Weiß der Teufel, warum.
21 comments
  1. Die Entwicklung von Reutlingen ist natürlich sehr bitter, gar keine Frage.

    Aber zumindest RWE passt in den Artikel überhaupt nicht rein. Dieser Verein wird nun schon seit Jahrzehnten einfach schlecht gewirtschaftet.

    Es ist der blanke Hohn, dass dieser Club, der im Vergleich zu anderen Viertligisten dank eines Zuschauerschnitts von 6.750 Mann eigentlich große finanzielle Vorteile hat, dennoch vor der Insolvenz steht:

    http://www.amateurkick.de/regionalliga_west/Regionalliga-West-Zuschauerschnitt-Fans-stehen-hinter-RWE;art36,24

    Und das sage ich ganz ohne Häme, auch wenn ich Schwarz-Weißer bin. Da wird die Kohle nur so verbrannt und solange die sich keinen vernünftigen Manager zulegen (der letzte prominente Dilettant war ja Thomas Strunz, nach dessen Weggang sich jeder fragte, was der eigentlich gemacht hatte, da ihn keiner vermisste und alle Aufgabenfelder auch ohne ihn besetzt waren), wird das auch nichts werden.

    Dazu kommt dann noch, dass die Mannschaft in den entscheidenden Spielen versagt. Da wurde die Qualifikation zur eingleisigen zweiten Liga im Heimspiel gegen die bereits abgestiegenen Lübecker noch vergurkt.

    Da wurde im Niederrheinpokal im letzten Jahr das Endspiel gegen den Sechstligisten (!) Speldorf ebenso verloren wie dieses Jahr gegen den Viertligisten Schwarz-Weiß-Essen (die mit einem Zuschauerschnitt von 300 ordentlich und sportlich erfolgreich haushalten können). Beide Male wurde damit der lukrative DFB-Pokal auf den letzten Metern verspielt.

    Für die echten Groundhopper steht somit aber auch ein echtes Schmankerl an, denn der mächtige ETB Schwarz-Weiß befindet sich am Samstag im Lostopf und hofft auf ein attraktives Los aus der ersten Liga. Wobei man in diesem Fall dann wohl kaum am altehrwürdigen Uhlenkrug spielen wird, der nach dem Umbau nur nach knapp 10.000 Plätze bietet. In ist, wer dabei ist.

  2. Naja, Reutlingen ist sicher auch nicht nur ein Opfer der widrigen Umstände, da wurde zu Zweitliga-Zeiten auch über die Verhältnisse gelebt. Auch weil man auf Druck des DFB eine Sitzplatztribüne bauen und eine digitale Anzeigentafel anschaffen musste. Die inzwischen natürlich außer Betrieb ist…

  3. Das „Endspiel“ Frankfurt-Reutlingen geht übrigens in meine Top-10 der besten Fernsehereignisse ever ein.

    In Eslebens WG mit dem Guru auf der Couch – Freud und Leid so dicht beieinander.

    Da ich beim SSV ja nun wahrlich kein Insider bin, hätte ich auch nie gedacht, dass das quasi der Anfang vom Ende war.

  4. Klar sind die Gründe von Verein zu Verein unterschiedlich. Aber trotzdem finde ich die Entwicklung bitter, diese Jahr melden 3 oder 4 Vereine Insolvenz an, die teilweise über eine enorme Tradition verfügen.
    Kuck man sich gleichzeitig mal die sechs Aufsteiger in die Regionalligen an, dann sind da drei zweite Mannschaften und RB Leipzig dabei. Das ist doch eine beschissene Entwicklung!

  5. Widerspricht aber nicht dem, was ich andeuten wollte: Mancher „Provinzverein“ lebt in seinem Streben nach Größerem über die Verhältnisse. Zweite Mannschaften sind davor eher gefeit und RB Leipzig sowieso, solange alle Welt meint, sich mit Gummibärchenbrause zu dopen.

  6. Da muss ich Esleben recht geben. Natürlich geht es kaum einem Amateurverein finanziell gut, aber sehr viele schaffen es eben auch, mit weitaus bescheideneren Mitteln als Essen, Siegen oder Reutlingen sportlich was zu bewegen.

    Siegen hat den höchsten Etat in der NRW-Liga und wäre dennoch fast abgestiegen.

  7. @3: Da musst du in deinem Aufstiegestaumel nicht genau hingeschaut haben. Ich war nämlich in Frankfurt im Stadion und nicht auf der Couch. ;-)

    Jetzt mal schauen, was die Insolvenz bringt und ob wir wieder nach oben kommen. Wahrscheinlich hätte das viel früher kommen müssen, nur wollte es keiner wahrhaben.

  8. Echt? Welcher Reutlinger hat denn dann neben mir gesessen? Da war auf jeden Fall einer am Start…

  9. @9: Ja ich, du Horst! War ja schließlich meine Bude, in der du gesessen bist.

  10. Die letzten drei Kommentare sind absolut weltklasse!

  11. RWE hat die Insolvenz beantragt, unfassbar:

    http://www.amateurkick.de/regionalliga_west/Regionalliga-West-Keine-Lizenz-fuer-RW-Essen-und-Bonn;art36,1393

    Ich bin gerade am Stadion vorbeigeradelt, aber da war die Info wohl noch nicht raus. Jedenfalls haben sich im angrenzenden Stadthafen zwei Einsatzhundertschaften warm gemacht…

  12. Die Regionalligen sind in der Form nicht überlebensfähig, das zeigt sich immer mehr.

  13. Wie ich schon sagte: RWE hat den höchsten Zuschauer-Schnitt aller Amateurvereine. Die können halt einfach nicht wirtschaften!

  14. Es ist ja nur nicht RWE. Es sind so viele in den Regionalligen. Klar sind da einerseits Dilettanten am Werk. Auf der anderen Seite kann man mit sehr wenig Geld halt auch nicht viel bewegen. Oder halt gar nichts. Die vierten Ligen sind Profiligen. Das ist mit dem Geld, was da erwirtschaftet wird, nicht zu finanzieren. Man muss aber das Geld ausgeben, weil man sonst gar keine Chance mehr auf den Aufstieg in die lukrativere 3. Liga hat. Und übrigens: Es steigt immer nur einer auf. Da muss also in einer Saison alles passen.

  15. Aber ist da nicht eher ein kollektiver Fehler der Vereine am Werke als ein Strukturfehler? Ich kenne es nur so, dass man nicht mehr Geld ausgibt als man hat. Wenn die vierte Liga also nicht genug Geld abwirft, um ein Profiteam zu unterhalten, dann darf ich halt nicht von der dritten Liga träumen und muss ein Team nach den finanziellen Möglichkeiten zusammenstellen. Ich habe das Gefühl, dass hier von den Vereinen ein völlig falscher Ansatz gewählt wird. Wir reden hier von der 4. Liga in Deutschland, wie kann man da erwarten, Gelder für Profifußball zu erschließen, es sei denn, man hat halt irgendeinen schwerreichen Mäzen?

  16. Ist zwar ein beschissener Fascho-/Assi-Club, aber trotzdem ist das doch irgendwie bescheuert. Die sportlichen Absteiger bleiben fast alle drin und hoch kommen die „Farmteams“ irgendwelcher Bundesligisten. Irgendwas muss sich die DFL / der DFB überlegen. Wenn das so weitergeht, erledigt sich das Thema nämlich von selbst.

  17. und was ist in der 88. minute passiert, katze?

  18. […] Das waren die mit der verbotenen Kondomwerbung auf den Trikots. Borussia Neunkirchen? Oder der SSV Ulm? Wattenscheid […]

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