Krisensimulation

Lippenbekenntnis„Wir ham die Schnauze voll!“ – Ein wütendes Publikum auf dem Zaun, eine Mannschaft auf dem Rasen, die sich mit „Scheiß-Millionäre“-Rufen schulbublike untern Senkel stellen lassen muss. Die anschließende, obligatorische Blockade des abfahrbereiten Mannschaftsbusses kann der Trainer im Dialog mit den Fans nach einer Stunde auflösen. Bundesliga-Alltag, wenn es in einem Team nicht läuft und man in der Rückrunde gerade einmal acht Punkte eingefahren hat, und damit lediglich den SC Freiburg in der „Rückrundentabelle“ hinter sich lassen kann? Nein, denn die Szenen haben sich nicht in Bochum, Nürnberg oder Berlin zugetragen, sondern im millionensubventionierten Fußball-Biotop Hoffenheim. Und sie lassen tief blicken.

Die TSG 1899 Hoffenheim spielt das zweite Jahr in der Bundesliga. Trotz der mageren acht Punkte, die man in der Rückrunde geholt hat, hat das Team von Ralf Rangnick nichts, ich wiederhole NICHTS mit dem Abstieg zu tun. 2007 spielte die Mannschaft noch zwei Klassen tiefer gegen Gegner wie den SC Pfullendorf, den SV Elversberg oder den VFB Stuttgart II. Ein Jahr reichte der Mannschaft, um den direkten Aufstieg – Jörg Dahlmann würde vom „Durchmarsch“ sprechen – in die Bundesliga zu schaffen. Dort folgte die Herbstmeisterschaft und abschließend Platz sieben. Jeder andere würde wahrscheinlich auf Wolke sieben schweben, zumal ein weiteres Jahr Bundesliga als gesichert gelten kann. Nicht so die Fans aus Hoffenheim. Die „ham die Schnauze voll“, von „Scheiß-Millionären“!

Ein Indiz dafür, wie ungesund das Wachstum der Hoffenheimer in den letzten Jahren und zu Lasten des Geldbeutels von Dietmar Hopp war. Dadurch hat sich ein Anspruchsdenken gebildet, in dem das Wort Demut – vor den vielen Erfolgen der letzten drei Jahren – nicht vorkommt. Die Gefolgschaft eines Vereines mit echter Tradition würde das, was Rangnick in den letzten Jahren mit hochtalentierten und – das darf man nicht vergessen – hochbezahlten Profis erreicht hat, sicher besser einordnen können.

Aber wahrscheinlich träumte nicht nur Crescendo-Hohenlohe davon, dass nach dem siebten Platz in der ersten Bundesligasaison, automatisch die Qualkifikation zur Europa-Liga folgen würde. Zumal mit Simunic für sieben Millionen einer der besten Abwehrspieler der Liga verpflichtet wurde, und Leistungsträger den Verein nicht verlassen wollten, durften oder mussten. (Eine Summe übrigens, die außer dem Podolski-kranken FC Köln keiner der unter Hoffenheim in der Tabelle stehenden Clubs je in einen Spieler investiert konnte). Da sich die Mannschaft aber lieber in Disziplinlosigkeiten übt, statt „Punkte einzufahren“, schwillt der Kamm des gemeinen Fans der Kraichgauer an, als drohte nach zehn Jahren Erstligazugehörigkeit der Absturz in die Zweite Liga bei gleichzeitigem Verlust der Lizenz. Wohlgemerkt, Hoffenheim hat jetzt schon sieben Punkte Vorsprung auf den Relegationsplatz. Kaum vorstellbar, dass Hoffenheim in den nächsten vier Spielen keinen Punkt mehr holt, Hannover dagegen alle.

„Wir ham die Schnauze voll“ – Normalerweise wären mir die Ereignisse des Wochenendes am Rande des Hoffenheimer Spiels herzlich egal. Als Symptom für ein verändertes Klima in den Stadion passen sie ganz hervorragend ins Fanbild, das sich mir dieses Saison in verschiedenen Stadien geboten hat. Da ist der St.Pauli-Fan mit Lonsdale-Jacke, der im Düsseldorfer Stadion mit Köln-Trikot sitzt und seinen Sitznachbarn fragt, wer denn dieser Littmann bei Düsseldorf wäre, als die Düsseldorfer auf Spruchbändern auf Littmanns Einknicken gegenüber der DFL vor dem Spiel gegen Hansa Rostock anspielten. Was sein ebenfalls mit Köln Trikot ausstaffierte Sitznachbar mit den Worten, das sei der „schwule Präsident“ konterte. Da ist die Münchner Arena, in der die Musik so laut aufgerissen werden muss, dass man seinen Nachbarn anschreien muss. Sonst wäre die Stimmung im Familienparadies Fröttmanning noch geisterhafter als mit Musik. Da scheint der VFL Bochum dem Geld zuliebe sein letztes Alleinstellungsmerkmal zwischen Schalke und Dortmund einem sauerländer Bierbrauer opfern zu wollen. Und, und, und.

Schon lange hat mir Bundesligafußball so wenig Spaß gemacht, wie in dieser Saison. Und das hat definitiv nichts mit der sportlichen Situation des SC Freiburg zu tun. Sie ist nicht schön, aber ich kann sie einordnen. Statt „Wir ham die Schnauze voll“ weiß hier eben jeder, dass die notorischen Torverweigerer doch eher in der zweiten Liga Zuhause sind. In Hoffenheim, einem  – und das meine ich vollkommen ohne Häme – klassischen Standort für Drittligafußball, hat man dieses Gespür längst verloren.

Über den Autor: esleben

Verrät als Freiburg-Fan Heimat wie auch Elternhaus und trinkt ansonsten ausschließlich Veuve Clicquot. Wer wohnt schon in Düsseldorf? Mehr über Esleben auf Google+

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9 comments
  1. Sehr schön fand ich auch den Kommentator der Sportschau: „Achtungs, jetzt wirds laut.“ – An einer Stelle als die Hoffenheimer mit Müh und Not die 300 (trotzdem Sperre) mitgereisten Kölner mit „Rangnick raus“ übertönen konnten. Dieser Verein ist so unendlich schlecht…

  2. Der Verein ist scheiße, aber die Fans sind halt noch scheißer.

  3. Korrekterweise müsste es eh „Scheiss Milliardär!“ heißen.

    Sehr schön natürlich auch der Titel!

  4. Danke!
    Sehr gut geschrieben.
    Leider steigen Lautern und Pauli offenbar auf, sonst wäre ich fast froh über den Abstieg des SC… Diese Liga macht keinen Spaß!

  5. Sehr gut geschrieben herzlichen Dank :)

  6. Neid

  7. Worauf?

  8. Vielleicht meint er die 111-jährige Vereinstradition?

  9. @7: Wahrscheinlich darauf, dass Freiburg keine so geilen Ultras hat wie Hoffenheim…

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