Apocalypse Now!

SSV Reutlingen„Siegen heißt Verlieren“, eine Phrase deren Wahrheitsgehalt am vergangenen Samstag überprüft werden musste. Auf dem Spiel stand viel, sehr viel. Das Siegener Leimbachstadion, hoch oben über der Stadt gelegen, eingekeilt zwischen zwei Berghängen, bot an diesem Tag die Kulisse, die Petrus auf eine Art und Weise bespielte, die den Spielort für die Akteure noch beklemmender erscheinen lassen musste.

Kurz vor Mittag kommen wir am Siegener Hauptbahnhof an. Es liegt eine seltsame Spannung über der Stadt, alles wirkt gedämpft, unwirklich, wie in Watte gepackt. Über der Stadt hängen dunkle Wolken, es ist schwül. Der Bus bringt uns direkt zum Stadion, dank modernster Technik müssen die per Internet erworbenen Tickets für den Gästeblock noch an der Sonderkasse am Marathontor abgeholt werden.

Die freundlichen Polizisten rund ums Stadion handeln heute wohl nach der Eskalations-Devise, die Frage, wo sich denn das Marathontor befindet wird mit der Frage gekontert: „Von wem seid ihr Fan!“ Das kommt davon, wenn man keine Farben trägt… Eine Polizeistaffel weiter findet sich allerdings ein freundlicher, natürlich schnauzbärtiger Vertreter des Gesetzes, der uns persönlich zum Euphemismus namens Marathontor geleitet. Die Zeit nutzt er, um uns sein Leid über die zweiwöchentlichen samstäglichen Einsätze zu klagen. Er wünscht den Sportfreunden jedenfalls nichts sehnlicher als die Insolvenz. Komischer Kauz!

Hinein ins Stadion, die übliche Bewaffnung ordern. Die Stadionwurst ist gigantisch, bestimmt einen halben Meter lang (Nein, nicht die zwanzig Zentimeter, die einem auf der Kirmes als halber Meter verkauft werden), äußerst schmackhaft und wird dem geneigten Schwaben auch auf die Worte: „Gibsch m´r a Rode!“ hin anstandslos gereicht. Bier-technisch bewegt man sich mit Krombacher allerdings unterhalb des Regionalliga-Niveaus, das hier normalerweise auf dem Rasen geboten wird.

Inzwischen ist es 13:00 Uhr und im Stadion gehen die Flutlichter an, schwere, dunkelschwarze Wolken hängen über dem Stadion, Sinnbild für die prekäre Situation der Sportfreunde und den drohenenden Fall in die Bedeutungslosigkeit für den SSV Reutlingen. Obwohl das Stadion ordentlich gefüllt ist, herrscht eine bedrohliche Stille, alle wissen, dass die kommenden 90 Minuten eine ganze Saison entscheiden, entsprechend gelähmt agieren die 22 Feldspieler. Lediglich „Schiri Gagelmann“ (A. Hennig) scheint nicht nervös zu sein, passt sich aber ansonsten dem niedrigen Niveau der Partie spielend an. Einen Fußballleckerbissen konnte man hier auch nicht erwarten.

Die Minuten verinnen, ohne dass viel vom Spiel hängengeblieben wäre, die Nervosität und Anspannung wollen trotz beachtlicher Trunkenheit nicht aus den Gliedern weichen. Es ist stockdunkel, als wie aus dem Nichts Siegens Stürmer Okpala im Reutlinger Strafraum auftaucht, den ersten umkurvt, ausrutscht, sich wieder aufrappelt, den nächsten umkurvt, wieder auf dem feuchten Rasen ausrutscht, um nach dem dritten Reutlinger, der ins Nichts grätscht, den Ball seelenruhig ins Tor zu schieben. Doch für lähmendes Entsetzen bleibt kaum Zeit, Petrus muss ein Reutlinger sein und lässt es just in diesem Moment schütten wie aus Kübeln.

Nach 15 Minuten ist das tropische Gewitter weitergezogen, selbst die Unterhose nass und die Reutlinger Anhängerschaft schöpft neue Hoffnung. „Spielabbbruch!“ wird gefordert, ähnliches hat schließlich in Nürnberg auch funktioniert. Kurz nach Wiederanpfiff holt sich Siegens Gaede eine Gelb-Rote Karte und Reutlingen drückt auf den Ausgleich. Nur eine Minute nachdem „Schiri Gagelmann“ einen Treffer für Reutlingen nicht anerkennt, netzt Schmiedel ein. Euphorie bei der Szene E und den anderen Reutlinger Fans, doch das Drehbuch dieses Spiels hält noch eine Überraschung bereit.

Wir schreiben die 77. Spielminute als Reutlingens Torhüter Krauss bei einem Abschlag ausrutscht und den Ball genau vor die Füße des Siegeners Unger zirkelt. Der, erst in der Winterpause von Reutlingen nach Siegen gewechselt, fackelt nicht lange und schlenzt das Leder aus gut 30 Metern ins Tor. Entsetzen, Lähmung allenthalben. Der Genickbruch für die Reutlinger, zumal Konkurrent Stuttgart führt. Die Zeit verrinnt, ohne dass sich eine der beiden Mannschaften noch einmal aufraffen könnte oder gefährlich vors Tor kommt. Die Beine sind schwer und nach dem Schlußpfiff sinken die Spieler beider Mannschaften erschöpft und frustriert auf den Rasen, während im Fanblock meine Fähigkeiten als Seelentröster gefragt sind.

Wortlos ziehen wir gemeinsam mit den Siegener Fans, denen ebenfalls nicht nach Feiern zumute ist, schließlich ist das Team weder in der dritten Liga dabei, noch die drohende Insolvenz abgewendet, ins Tal. Ein Frustmahl beim großen M später sitzen wir im Zug zurück ins Ruhrgebiet. Ein denkwürdiges Spiel, das am Ende keinen Sieger kannte. „So eine Scheiße!“ (A. Hennig)

Über den Autor: esleben

Verrät als Freiburg-Fan Heimat wie auch Elternhaus und trinkt ansonsten ausschließlich Veuve Clicquot. Wer wohnt schon in Düsseldorf? Mehr über Esleben auf Google+

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18 comments
  1. Ich bin echt immer noch so tieftraurig, dass ich von Fußball erstmal nichts mehr wissen möchte. Mir wird in den Tagen nach dem Spiel immer klarer, was wir da für eine Chance aus der Hand gegeben haben. Ich fass das ganze immer noch nicht. Wir hatten die besten Voraussetzungen. Und dann brechen uns das 0:4 gegen Pfullendorf und das 1:2 in Siegen das Genick. Ergebnis: Wir hätten auch letzter werden können. Die ganze Saison war praktisch für den Arsch.

    Und hier die voraussichtlichen Mannschaften für die neue Regionalliga Süd. Nur beschissene 2. Mannschaften, die keine Zuschauer oder Sponsoren ziehen. Willkommen in der fußballerischen Bedeutungslosigkeit. Einmal mehr steht der SSV Reutlingen für das totale Desaster.

    1860 München II, Hessen Kassel, Karlsruher SC II, SC Pfullendorf (alle spielten ebenso wie Reutlingen bereits bisher in der Regionalliga Süd), SC Freiburg II, SSV Ulm 1846, SV Waldhof Mannheim, 1. FC Heidenheim (die ersten Vier aus der Oberliga Baden-Württemberg), SV Darmstadt 98, SV Wehen II, Viktoria Aschaffenburg, Eintracht Frankfurt II (Oberliga Hessen), Spvgg Bayreuth, Spvgg Greuther Fürth II, 1. FC Nürnberg II und TSV Großbardorf (Oberliga Bayern) und Energie Cottbus II (!!!)

  2. Cottbus spielt in der Regionalliga Süd?

    Tja, tut mir echt leid für euch, das ist echt bitter gelaufen.
    Der Artikel ist auf jeden Fall gut geschrieben, falls ich das anmerken darf.

  3. Junge, Junge, Junge, was ein Desaster.

    Scheiß Wetter, Scheiß Spiel, Scheiß Ergebnis. Der SIegener Kollege ist ebenfalls am Boden zerstört, da denen jetzt finanziell das Wasser bis zum Hals steht.

    Und in der Nord bringt es Essen auch noch fertig, zu Hause gegen Lübeck zu verlieren und die gute Ausgangsposition leichtfertig zu vertändeln. Die müssten doch jetzt wahrscheinlich gegen Westfalia Herne spielen, oder? Da wäre ich ja auf jeden Fall mit von der Partie.

    Auch Schwarz-Weiß Essen bringt sich durch einen völlig unnötigen Trainerwechel auf der Saisonzielgeraden selbst auf die Verliererstraße und verbaselt den Aufstieg.

    Alles in allem ist das in den unteren Ligen ja geradezu desaströs gelaufen.

    Beileid an den Reutlinger!

  4. Sensationell auch, was ganz unten abgehen kann:

    http://sport.t-online.de/c/15/21/30/70/15213070.html

  5. Immerhin wurde im Block alles gegeben:

  6. @4: Germania Nippes!! Was ein Vereinsname. Gehts noch geiler?

  7. Hat eigentlich irgendein Stratege den Artikel aus Versehen gelöscht oder warum ist der weg?

  8. Da isser wieder ! Datensicherung sei Dank !

  9. @4: Die Polizei hätte ja intervenieren können. Aber die stehen ja abgeschlagen auf dem letzten Platz.

  10. ein schwarzer tag..

    diese zweit vertretungen kotzen einen an, am besten alle in eine gesonderte liga stecken. auch wenn es den fussball in der qualität nach hinten haut.
    es zerstört die kleinen traditionsvereine.

    für immer reutlingen

    auch das war an diesem tag thema:
    http://www.fansmedia.org/index.php?option=com_content&task=view&id=77&Itemid=1

  11. @10: Tja, war wohl die letzte Gelegenheit der Dorfbullerei, nochmal den Knüppel rauszuholen, bevor die Sportfreunde in der Versenkung verschwinden. Armselig.

  12. @11: Das Problem war, dass die meisten Bullen eher nicht zur Kategorie Dorfbullen gehörten, sondern aus Köln und wo diese Hundertschaften sonst immer rumlungern, kamen. Die waren schon vor dem Spiel aggressiver als nötig und im Vergleich zu einem Bundesliga-Kick in Bochum wimmelte es da nur so vor Bullen.

  13. @12: Das ist aber genau die Erfahrung, die ich bei niederklassigen Spielen gemacht habe. Da verhält sich die Polizei meist aggressiver und auffälliger als bei Bundesligaspielen, bei denen sie meist beobachtend im Hintergrund bleibt. Und zweiteres ist ja völlig ok.

  14. @13: Wahrscheinlich, weil sie in der BuLi einfach auch mehr im Fokus der Beobachtung durch die Medien stehen.

  15. Ich weiß nicht. Mir kommt es immer so vor, als ob zu den Bundesliga-Spielen auch die wahren Profis der Polizei geschickt werden.

  16. @15: Irgendwo müssen sogar Polizisten üben dürfen…

  17. […] in die Slowakei, begutachten die Ultras des PSV Wesel-Lackhausen, werden Zeugen von “Apocalypse now“, dem traurigsten Nichtaufstieg aller Zeiten, und ärgern uns ganz furchtbar über die […]

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