Rock im Staub – Das Summercase in Madrid

Am Ende meines Madrid-Aufenthalts war Kollege Esleben der einzig Aufrechte unter den ganzen Schwätzern meiner „Freunde“ und Bekannten: Er machte seine Drohung wahr und besuchte mich trotz neugeborenem Sohn (wahscheinlich später mal Mittelstürmer) von Dienstag bis Sonntag in der vor Hitze glühenden spanischen Hauptstadt.

Nach einigen mit Sightseeing und Touren durch die Madrider In-Bars vollgepacktenTagen, machten sich die beiden Protagonisten am Freitag auf den Weg nach Boadilla del Monte, einem kleinen Trabantenstädtchen im äußersten Südwesten von Madrid. Hier hatte der Spanier auf einer Art Mondlandschaft ein Festival mit großen Namen aus dem Boden gestampft. Festivals in Spanien laufen generell etwas anders ab als in Deutschland: Wegen der Hitze beginnen sie erst gegen Abend und enden dafür gegen halb 6 morgens. So auch das Summercase.

First Aids

Die Ankunft an beiden Festivaltagen war so simpel wie vorhersehbar: Nach Entern des Geländes erstmal zum Bierstand, sich pro Person mit Biermarken im Wert von 20 Euro eingedeckt und gleich ein paar Patronen verlötet.

Nun zu den Bands:

Freitag, 20:45 Uhr: Soulsavers feat. Mark Lanegan

Düstere Mucke, die überhaupt nicht zum warmen madrilenischen Sommerwetter passen will, dafür aber unglaublich einnimmt. Wall of Sound, gezaubert von 3 Gitarren, Bass und Schlagzeug. Als Mark Lanegan ans Mikro geht, meint man, ein durchs Publikum gehendes Raunen wahrnehmen zu können, so kraftvoll, tief und intensiv klingt Lanegans Stimme. Der Raum scheint nur durch diese Stimme ausgefüllt zu werden. Völlig absurd wird es, als zu der düsteren Musik plötzlich zwei tanzende Backgroundsängerinnen auf der Bühne erscheinen. Kommunikative Totalverweigerung von Mark Lanegan. Schöner Beginn, CD wird angetestet.

Freitag, 22 Uhr: Jarvis Cocker

Der Sänger von Pulp lässt nichts anbrennen und wird vom Spanier auch frenetisch gefeiert. Krasser Gegensatz zu den Soulsavers: Jarvis Cocker ist am Entertainen wie kein Zweiter; allerdings mit seinem langarmigen Hemd auch am Schwitzen wie kein Zweiter. Die Musik gefällt; große Unterschiede zu Pulp lassen sich jedoch nicht festmachen.

Freitag, 23:30 Uhr: The Gossip

Eine unglaublich dicke Sängerin, eine lesbische Schlagzeugerin und ein etwas gothic-rock-anmutender Gitarrist sind durchaus in der Lage, das Festivalzelt zu rocken. Für die spärliche Instrumentation von wahlweise Gitarre + Schlagzeug bzw. Bass + Schlagzeug auch durchaus amtlich. Die Sängerin agiert wie ein wilder Derwisch. Die hitsüchtigen Spanier flippen bei „Standing In The Way Of Control“ völlig aus.

Freitag, 00:40 Uhr: Air

Die beiden Franzosen spielen mit ihrer Band eindrucksvoll perfekt. Der Sound ist kristallklar, jeder Ton sitzt, alles an der richtigen Stelle. Einfach beeindruckend. Nur der Funke will anfangs nicht so richtig auf das Publikum überspringen. Erst als Air nach 2o Minuten das Tempo etwas steigern und ein ausgewähltes Hit-Potpourri kredenzen, wird die Stimmung besser. Insgesamt gefällt der Auftritt. Leider wahrscheinlich nicht die beste Festival-Mucke

Freitag, 2:05 Uhr: Kaiser Chiefs

Englische Superprolls. Musikalisch das gesamte Spektrum von prollig bis primitiv. Gefällt mir überhaupt nicht.

Freitag, 2:30 Uhr: !!!

Ein absoluter Höhepunkt des Festivals: Unglaublich energiegeladene, funkige Grooves, die dem Publikum keinerlei Chancen zum Durchatmen lassen. Es ist schon fast brutal, was das neunköpfige Kollektiv aus den USA auffährt. Länger als anderthalb Stunden hält das kein Mensch aus. So geil es auch war: Ich war froh, als diese Verrückten endlich von der Bühne gingen.

Freitag, 3:30 Uhr: The Chemical Brothers

Festival-Rave vom feinsten. Schöne Lightshow. Nur: Wir konnten nicht mehr!

Samstag, 22:00 Uhr: PJ Harvey

Goldschuhe aus‘ heimlicher Schwarm enttäuschte leider auf der ganzen Linie. Dies lag nicht unbedingt an Frau Harvey selber, die übrigens in einem absurden weißen Kleid auftrat, sondern am völlig desolaten Tonmischer. Die Gitarre von PJ war kaum zu hören, das Klavier dann schon überhaupt nicht mehr. Dass sie nur allein auf der Bühen stand und sich später an elektronischen Spielereien versuchte, steigerte nicht gerade die Stimmung. Fazit: Nach 5 Songs lieber ein Bierchen trinken.

Samstag, 23:15 Uhr: The Flaming Lips

Wayne CoyneJa gut, sicherlich. Was will man dazu noch sagen. Großer „Kindergeburstag“ (C. Treutler), große Show, großer Spaß, große Musik. Links die Aliens, rechts die Weinachtsmänner. Konfettikanonaden en masse. Wayne Coyne im überdimensionalen transparenten Kunstoffball auf der Reise über dem Publikum. Von „She Don’t Use Jelly“ bis hin zu „Do You Realize“ (bei dem selbst ich als härtester Kerl Madrids einige Male schlucken musste) war für den geneigten Hörer alles dabei. Perfekter Sound und einfach ein schönes Konzert. Beim nächsten Flaming-Lips-Konzert bin ich wieder dabei. Unschlagbar.

Samstag, 0:40: Arcade Fire

Ganz schlimmes Pop-Folk-Rock-Kollektiv, das bei Esleben und mir beinahe Brechreiz auslöste. Geige in der Popmusik: Höchststrafe! Schnell ein Bier und ab zu Bloc Party.

Samstag, 2:05 Uhr: Bloc Party

Esleben ist die ganze Zeit am Rummosern. Ich lasse mich davon nicht beeindrucken und fand die Darbietung sehr gut, obwohl ich davor noch nie etwas von Bloc Party gehört hatte. Die CDs werden auf jeden Fall angetestet. Unterm Strich bleibt, dass Flo vielleicht Ahnung vom Kindermachen, weniger aber von Musik hat. :mrgreen:

Samstag, 2:45 Uhr: LCD Soundsystem

Ein weiterer Festival-Höhepunkt. Die Jungs und Mädels auf der Bühne sind in der Tat ein echtes Soundsystem. Gnadenlos werden die Beats durchgeprügelt und an den Mann gebracht. James Murphy scheint allerdings einen an der Waffel zu haben: Trotz unmenschlicher Lautstärke reißt er den Bassverstärker weiter auf. Das einzige Konzert, bei dem Ohrenstöpsel dringend vonnöten waren. Trotz der Lautstärke war der Sound jedoch an der Grenze zur Perfektion.

Samstag, 3: 30 Uhr: Scissor Sisters

Naja, nach LCD Soundsystem waren wir willfährig genug, um uns die Scherenschwestern auch noch anzutun. Wobei mir jetzt noch nicht klar ist, welchen Musikstil diese Band eigentlich pflegt: von Pop über Stadion-Rock bis hin zu Dance-Einflüssen war alles dabei. Die Darbietung war routiniert bis perfekt, „I Don’t Feel Like Dancing“ wurde gespielt, alles gut und ab nach Hause.

Resümmee

Das Festival war super, das Line-Up sprach ja auch schon für sich. Negativ anzumerken bleiben jedoch auf der einen Seite das staubige Festival-Gelände, bei dem auf Rasen oder Natur völlig verzichtet wurde. Außerdem war die Abreise eine Tortur, da man bis auf die erste Metro warten musste und wir so an beiden Tagen nicht vor halb 7 Uhr morgens zuhause waren. Was uns natürlich nicht daran hinderte, noch gemütlich ein Bierchen zu trinken. ;-)

Über den Autor: Guru von der Kreuzeiche

Leidensbereiter sowie leiderprobter SSV-Reutlingen-Fan und Unsympath. Empfindet die Bezeichnung “Unglaublicher Demagoge” als Kompliment. Trinkt was Schnäpse angeht nur klar.

Leidensbereiter sowie leiderprobter SSV-Reutlingen-Fan und Unsympath. Empfindet die Bezeichnung “Unglaublicher Demagoge” als Kompliment. Trinkt was Schnäpse angeht nur klar.
13 comments
  1. War dies das gesamt Line-up oder nur die Highlights? Bis auf einige Ausre߸er ist das ja wirklich ziemlich dick, was das geboten wurde. Nur was um Himmels Willen die Scissor Sisters da machen, ist mir unklar. Unerträglich die.

    Aber schön zu wissen, dass Jarvis Cocker noch lebt. Den habe ich vor Urzeiten mal mit Pulp gesehen, das war auch schon großes, theatralisches Kino vom „sexiest man alive“.

    Und bezeichnend für meine These, dass Musik auserzählt ist: Die (für mich) größten Knaller des Festivals sind ja mit Ausnahme von Bloc Party auch schon seit Jahrzehnten am Start.

  2. http://www.summercase.com/artistas_en.php

    Da findest du den Rest, das LineUp war in der Tat amtlich und die Atmosphäre trotz Mondlandschaft exzellent. Nur mit dem Betrunkenwerden wollte es nicht so klappen, wurde einfach zuviel geschwitzt.

  3. Oh, da warst du schneller.

  4. James müssten doch inzwischen auch schon 85 sein. Wusste gar nicht, dass es die noch gibt. Genau wie The Jesus and Mary Chain.

    Wie waren denn The Pigeon Detectives und The View? Die Platten von denen finde ich eher durchschnittlich.

  5. Ham wa nich gesehen, du Vogel.

  6. Ach ja, ich vergaß. Ihr Erfolgsfans standet nur an der Hauptbühne. ;-)

  7. Da wäre genau gar keine Band für mich dabeigewesen.

    Kenne zwar ein paar vom Namen her, aber für mich wär das nix gewesen.

    Zu meinem Fernbleiben von Madrid bleibt nur so viel zu sagen: Es lag nicht an mir. Die Gattin (und teilweise sogar die Arbeit!) hat dem ganzen leider einen Riegel vorgeschoben…:-/

  8. @7: Genau richtig erkannt. Aber wie du selbst schon sagst, The Pigeon Detectives und The View kann man verpassen, die Flaming Lips oder !!! darf man nicht verpassen. Ein kleiner aber feiner Unterschied. Über die Platten der Engländer spricht in spätestens vier Wochen kein Mensch mehr. Dutzendware.

  9. !!! kenne ich gar nicht. Wie spricht man die aus?

  10. @0: der flo war schon immer ein fleissiger erasmusbesucher, kommt aber ins ausland nur für events, das hat sich in 9 jahren nicht geändert, ahnung von britischer gitarrenmusik hat er noch immer nicht und arcade fire sind live grossartig

  11. @10: Die musst du dir mal anhören! Wird „chk chk chk“ ausgesprochen.

    @11: Mag sein, wenn man die Musik mag. Ich fand sie grauenhaft.

  12. Arcade Fire

    Ganz schlimmes Pop-Folk-Rock-Kollektiv, das bei Esleben und mir beinahe Brechreiz auslöste.

    Das kann ich nur unterschreiben. Habe mir jetzt mal Arcade Fire auf Tipp von Mehmet Scholl angehört. Und muss leider sagen: Scholl hat einen schlimmen Musikgeschmack.

    Ich füge noch ein „banal“ und „stinklangweilig“ hinzu.

Kommentare sind geschlossen.